Otto und Gustav Lilienthal im Jahr nach dem Tod des Vaters. Regis A., Fotografie, 1862

Otto und Gustav Lilienthal

Glaubt man den Überlieferungen, so war eine Tierfabel Auslöser des Traums vom Fliegen der Brüder Lilienthal. Der Storch, der einem Zaunkönig erklärt, wie mühelos er mit seinen ausgebreiteten Schwingen fliegen kann, animiert die Kinder zu Selbstversuchen. Sie bauen sich Flügel aus Buchenspanbrettern, um es den Vögeln gleichzutun. Ihr Scheitern stachelt ihren Ehrgeiz nur an und mit den Jahren werden ihre Studien und Entwürfe für „Flugmaschinen“ immer ausgefeilter. Neugier und Enthusiasmus verbindet das Brüderpaar, das von den Eltern den Hang zum Träumen, künstlerisches Talent und das Interesse an Technik geerbt hat.

Geburtshaus Otto und Gustav Lilienthals
Das Wohn- und Geschäftshaus der Lilienthals (Geburtshaus Otto und Gustav Lilienthals) in der Peenestraße 8, in unmittelbarer Nähe der Nikolaikirche. Fotografie nach 1910
Wohnhaus der Familie Lilienthal, 1852 bis 1864, Fotografie, Gerhard Halle
Wohnhaus der Familie Lilienthal, 1852 bis 1872, Fotografie, Gerhard Halle, vor 1945

Otto Lilienthal ist vier Jahre alt als seine Familie sein Geburtshaus aufgeben und in ein kleineres Haus in der Peenestraße Nr. 35 umziehen muss. Hier verbringen Otto und Gustav den Rest ihrer Kindheit. Auf dem Hof stand ein Fahrradtaxi, auf dem Dachboden hing ein Flügelschlagmechanismus und aus dem ersten Stock des Hauses wagen Otto und Gustav Lilienthal einen Flugversuch. Diese Abenteuer und Experimente ermöglicht ihnen ihre Mutter, die nach dem Tod ihres Ehemannes stets darum bemüht ist, dem Forscherdrang ihrer Kinder freien Lauf zu lassen: „Wie oft schon wurden bedeutende Künstlertalente im Keime erstickt“, schreibt Caroline Lilienthal, „wie oft der Götterfunke großartigen Forschens, herrlicher Erfindungen und Revolutionen durch dies sinnlose Widerstreben im Entglimmen gelöscht.“ Caroline Lilienthal lebt bis zu ihrem Tod in diesem Haus. Es ist bis heute erhalten.

Scherenschnitt von Otto Lilienthal, gesammelt von Caroline Lilienthal.
Scherenschnitt von Otto Lilienthal, gesammelt von Caroline Lilienthal.

In der Schule folgen Otto und Gustav Lilienthal ihren Neigungen, erzielen in den Augen ihrer Lehrer jedoch keine guten Leistungen. Lediglich im Kunstunterricht und in der Mathematik fällt Otto positiv auf. Gilt anfangs Otto als der „Künstler“ in der Familie Lilienthal, kehrt sich das Verhältnis mit der Zeit um. Gustav entfaltet seine künstlerischen Fähigkeiten, während Otto seiner Leidenschaft für die Technik nachgeht. Otto studiert Maschinenbau an der Gewerbeakademie in Berlin, Gustav folgt ihm nach und schreibt sich an der Bauakademie ein.

Ansicht von Anklam, Zeichnung von Otto Lilienthal, 1865
Ansicht von Anklam, Zeichnung von Otto Lilienthal, 1865
Bluthslust, Zeichnung der Anklamer Parkanalge von Gustav Lilienthal, um 1865
„Bluthslust“, Zeichnung der Anklamer Parkanalge von Gustav Lilienthal, um 1865
Tretwagen
Schon als Schüler zeigen Otto und Gustav ihren Erfindergeist. 1866 bauen sie einen Tretwagen, der einen Fahrgast befördern kann – wobei der Passagier sich am Antrieb des Gefährts beteiligen sollte. Später, in ihrer Studentenzeit, führten die Brüder das Tretrad auch in Berlin vor: „Ein Vergnügen ist es freilich nicht gewesen“, schreibt Gustav Lilienthal rückblickend, „ohne Federung die schlecht gepflasterten Straßen, insbesondere die Chausseestraße, entlangzufahren. Wir fühlten die Erschütterung bis in die Fingerspitzen.“
Skizze von Gustav Lilienthal, um 1920
Gesellenprüfung Maurerlehre
Der Berufsweg Gustav Lilienthals zum Architekten, Baumeister und Siedlungsgründer beginnt mit einer Maurerlehre: Am 15. Oktober 1868 wird ihm die bestandene Gesellenprüfung durch die Prüfungskommission des Maurerhandwerks in Anklam bestätigt. Neben Flugtechnik, Kunst und Pädagogik wird er auch diesem Handwerk mit verschiedenen Erfindungen bis ins hohe Alter treu bleiben.